Wolfgang Krüger: Kurze Geschichte der Guillotine

Als Guillotine wird die Köpfmaschine bezeichnet, die in seiner späteren Form im Zuge der Französischen Revolution entwickelt wurde, eine gewisse makabre Berühmtheit erlangte und später in einigen deutschen Staaten als Fallschwert- oder Fallbeilmaschine bekannt wurde. Allerdings war sie nur eine Weiterentwicklung früherer Enthauptungsapparate, die bereits seit dem Mittelalter eine Zeitlang in einigen anderen europäischen Ländern existierten.

Seit der Antike wurden zur Enthauptung verurteilte Delinquenten mit einer handgeführten Waffe bzw. einem handgeführten Werkzeug zu Tode gebracht, sei es mit einem Schwert, einem Beil, einem Messer oder einem Krummdolch (letztere noch im 19. Jahrhundert im Osmanischen Reich, und dort besonders in den nordafrikanischen Provinzen). Noch heutzutage sterben zum Tode Verurteilte im Königreich Saudi-Arabien den öffentlichen Tod durch das Schwert. Doch schon im Mittelalter machte man sich in Europa Gedanken, wie eine mechanische Enthauptung bewerkstelligt werden könne, und entwickelte dementsprechend Köpfgeräte.

Kupferstiche aus: Das gestochene Grauen – KIRCHSCHLAGERS KRIMINAL-KABINETT

In Italien soll im Mittelalter ein als „Mannaia“ genanntes mechanisches Köpfgerät benutzt worden sein. In Schottland dagegen, wo Todesurteile überwiegend am Galgen vollstreckt wurden, kam im 16. und 17. Jahrhundert ein als „Scottish Maiden“ (also „Schottische Jungfrau“) in die Geschichte eingegangenes Instrument zum Einsatz, allerdings nur gegen prominente adelige Verurteilte. Diese Maschine war aus Eichenholz gefertigt und bestand aus drei Armen, wobei ein Auslegerarm die zwei senkrecht stehenden Balken stützte. Das Gerät hatte eine Höhe von etwa drei Metern. Die Klinge bestand aus Eisen mit einem Stahlmantel und war zirka dreiunddreißig Zentimeter lang und sechsundzwanzig Zentimeter hoch. Am oberen Ende der Klinge wurden Gewichte von etwa vierunddreißig Kilogramm befestigt, die die waagerechte Klinge in den ins Holz geschnittenen, mit Kupfer ausgekleideten Führungsschienen nach unten durch den Hals drückten. Das Messer schlug in der unteren Endlage auf einen mit Blei ausgegossenen Holzblock.

Eine sehr ähnliche Konstruktion war auch der „Halifax Gibbet“, also der „Galgen von Halifax“, der seit dem Mittelalter Verurteilte in der Stadt Halifax, in der nordenglischen Grafschaft Yorkshire gelegen, durch Enthauptung ins Jenseits beförderte, während in allen anderen englischen Grafschaften der Galgen vorgeschrieben war, mit Ausnahme von adeligen Verurteilten, die den Tod durch das Handbeil starben.

Auch in Deutschland, besser gesagt im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation mit seinen rund dreihundert Staaten, wo das Schwert als klassisches Enthauptungswerkzeug galt, soll es ein ähnliches Enthauptungswerkzeug gegeben haben, die „Diele“. Sie soll aus zwei Ständern bestanden haben, die mit einer Leiste verbunden waren. Auf dieser Leiste mußte die verurteilte Person den Kopf auflegen. Zwischen den Ständern lief in Schienen eine andere mit Blei beschwerte Leiste hinab, an der das Eisen angebracht war. Diese Leiste wurde dem Delinquenten auf den Nacken gelegt und mit schweren Hammerschlägen durch den Hals getrieben. Der Autor dieses Beitrages bezweifelt sehr, ob diese deutsche Methode regelmäßig zur Anwendung kam. In den deutschen Territorien wurde zu Enthauptungen so gut wie in allen Fällen das Schwert benutzt. Die gleichfalls gern kolportierte Version der Hinrichtung mit einem Handbeil gehört jedenfalls in den Bereich der Sagen.

Ihre heute bekannte, anfangs etwas klobige, im Laufe des 19. Jahrhunderts elegantere Form erhielt die mechanische Köpfmaschine während der Französischen Revolution. Die seit dem Mittelalter im französischen Königreich praktizierten unterschiedlichen Hinrichtungsmethoden wie der Galgen, die eiserne Keule zum Zerschlagen der Knochen, der Scheiterhaufen und die Enthauptung mit dem Schwert (nur bei Adeligen angewandt) sollten zu einem einzigen Instrument zusammengeführt werden, so wie es der Arzt, Freimaurer und Politiker Joseph-Ignace Guillotin forderte. Ihm war an einer humanen Hinrichtungsmethode gelegen, die den Tod sehr rasch herbeiführte. Als Vorbild diente das Fallbeil von Halifax. Der königliche Leibarzt Louis und König Ludwig XVI. selbst (er sollte im folgenden Jahr das prominenteste Opfer der neuen Köpfmaschine werden) befürworteten die eingereichten Entwürfe. Der aus Straßburg stammende Klavierbauer Tobias Schmidt entwickelte einen Prototyp, der bei Guillotin und dem Pariser Scharfrichter Sanson auf großes Interesse stieß.

Am 20. März 1792 wurde ein Gesetz erlassen, das zukünftige Hinrichtungen mit dieser mechanischen Köpfmaschine vorschrieb. Schmidt erhielt nun den Auftrag, ein derartiges Fallbeilgerät zu bauen. Es bestand aus zwei oben mit einem Querholz verbundenen hölzernen Säulen, die mit eisernen Schienen versehen waren. Die verurteilte Person wurde auf ein waagerechtes Brett gebunden, der Kopf in einem hölzernen Kragen, der sogenannten „Lunette“, fixiert. Ein mit einer Kurbel ausgelöstes Seil dirigierte ein schräges Messer in den Schienen hinab auf den Hals der verurteilten Person und trennte rasch und sicher den Kopf ab.

Der Straßenräuber Nicolas-Jacques Pelletier weihte am 25. April 1792 in Paris mit seinem Kopf die zum Verdruß des Arztes Guillotin später „Guillotine“ genannte Maschine ein. Sie sollte schon bald zum Schreckenssymbol der Revolution werden: Tausende von „Revolutionsfeinden“, meist Adlige, und anderen politischen Gegnern verloren vor einer riesigen gaffenden Menschenmenge unter ihr den Kopf. Auch in anderen Departements der neuen Republik wurde die Guillotine eingeführt und tötete zahlreiche Regimegegner.

Die Guillotine, Ansichtskarte aus der Zeit um 1900, Sammlung Verlag Kirchschlager, Arnstadt

Die Guillotine entwickelte sich rasch zum festen Bestandteil der französischen Strafjustiz, und von ihr wurde im 19. Jahrhundert reichlich Gebrauch gemacht. Bis zum Jahr 1939 fanden die Hinrichtungen in Frankreich in aller Öffentlichkeit statt. Der letzte, der vor einer gaffenden Menschenmenge seinen Kopf in die „Lunette“ legte, war am 17. Juni 1939 vor dem Gefängnis in Versailles der aus Deutschland stammende Serienmörder Eugen Weidmann.1

Im Zuge der Kriegszüge der Franzosen, die sie in den 1790er Jahren bis an den Rhein führten, wurde sie schon bald auch in den besetzten linksrheinischen Territorien Deutschlands, 1810 in den in das französische Kaiserreich eingegliederten Gebieten Nordwestdeutschlands und in den Niederlanden, aber auch im von den Franzosen besetzten päpstlichen Kirchenstaat eingeführt. Im 1830 gegründeten Königreich Belgien wurde die Guillotine ab 1835 ebenfalls für die Hinrichtung von zum Tode Verurteilten verwendet. Zwei Kantone der Schweiz, Genf und Zürich, übernahmen gleichfalls diesen Enthauptungsapparat. Als einige Kantone in den 1880ern die 1874 in der Eidgenossenschaft abgeschaffte Todesstrafe wiedereinführten, wurde die Guillotine zur alleinigen Hinrichtungsmethode bestimmt.

Auch das neue Königreich Italien, an das 1870 der Kirchenstaat gelangte, verwendete die Guillotine in seinen Anfangsjahren. Das seit 1832 bestehende Königreich Griechenland ließ sich ebenfalls für die Guillotine begeistern, bis sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch das Erschießen ersetzt wurde. Selbstverständlich fand die Guillotine auch in den französischen Überseedepartements wie auch in den französischen Straflagern und Kolonien rege Anwendung. Sogar das schwedische Königreich wendete die Guillotine einmal (1910) an.

Guillotine auf einer Ansichtskarte, Sammlung Verlag Kirchschlager, Arnstadt

In den rund dreihundert Staaten des bis 1806 bestehenden Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation aber wurde nach der Französischen Revolution weiterhin mit dem Schwert enthauptet. Die unter dänischer Kontrolle stehenden Herzogtümer Schleswig und Holstein hatten in den 1770er Jahren des 18. Jahrhunderts das Handbeil eingeführt, übernahmen damit die im nordischen Königreich praktizierte Methode. Das Königreich Preußen folgte ihnen im Jahre 1811, behielt aber später in seiner von den Franzosen übernommenen Provinz Rheinland das Fallbeil bei. Das Königreich Hannover führte es 1859 ebenfalls ein, und als die Preußen Hannover annektierten und als Provinz in ihr Königreich eingliederten, behielten sie dort die mechanische Enthauptungsmaschine bei. Erst 1932 wurde die Guillotine in beiden Provinzen durch das Handbeil ersetzt. Dabei mögen auch Ressentiments gegen die unbeliebten, ja teils verhaßten Franzosen eine Rolle gespielt haben, die nach dem Ersten Weltkrieg große Teile im Westen des Deutschen Reiches besetzt hielten.

Vor der Revolution von 1848 war in den Staaten des Deutschen Bundes die Fallschwertmaschine nur in der preußischen Rheinprovinz sowie im linksrheinischen Gebiet des Großherzogtums Hessen und in der bayerischen Rheinpfalz vorgeschrieben, wo noch das französische Strafrecht galt. Groß-Hessen führte sie aber 1841 auch in das (größere) rechtsrheinische Gebiet ein, 1853 folgte das Königreich Württemberg, 1854 das Königreich Bayern und die freie Stadt Hamburg, 1856 das Großherzogtum Baden und das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach als erster thüringischer Staat. Andere Staaten wie das Königreich Hannover 1859 schlossen sich im Laufe der nächsten Jahrzehnte an.

Im Dritten Reich wurde das Fallbeil Ende 1936 zum alleinigen Enthauptungsgerät im Deutschen Reich bestimmt, weil es innerhalb kurzer Zeit auch eine größere Hinrichtungszahl bewältigen konnte. Zu diesem Zweck wurden zentrale Richtstätten in Hamburg, Wolfenbüttel, Weimar, Berlin, Breslau, Königsberg, Köln, Frankfurt am Main, Stuttgart und München mit je einem Fallbeilgerät eingerichtet. Die Zahl wurde nach Kriegsausbruch erweitert. Dies kam dem Regime ab 1940, als die Hinrichtungszahlen emporschnellten, zugute. Allerdings bestand die Guillotine schon vorher in den Ländern Thüringen, Baden, Bayern und Württemberg. Als im Jahr 1938 Österreich an das Deutsche Reich angeschlossen wurde, erhielt auch die „Ostmark“ ein Fallbeilgerät. In den besetzten polnischen Gebieten wurde die Guillotine 1940 und im Protektorat Böhmen und Mähren 1943 ebenfalls eingeführt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg bestand die Guillotine in Frankreich und seinen Überseegebieten, in der Republik Vietnam und im von den Alliierten besetzten Deutschland bis zur Gründung der Bundesrepublik 1949 wie auch in der späteren Deutschen Demokratischen Republik weiter. Die letzte Guillotinierung auf deutschem Boden wurde am 6. September 1967 in Leipzig an den beiden Sexualmördern Paul Beirau und Günter Herzfeld durchgeführt. 1968 ersetzte das neue Strafrecht der DDR diese anachronistisch anmutende Hinrichtungsart mit der „humaneren“ Methode des Genickschusses. Das allerletzte Opfer der Guillotine jedoch verlor seinen Kopf zehn Jahre später, am 10. September 1977, als in der französischen Hafenstadt Marseille der tunesische Frauenmörder Hamida Djandoubi enthauptet wurde. Seitdem gehört dieses schaurig-unheimliche, aber immer noch viele Menschen in seinen Bann ziehende Instrument der Vergangenheit an. Die Zahl der seit 1792 mit der Guillotine hingerichteten Personen geht in die Zehntausende, wovon die größte Zahl, das mag einige überraschen, auf Deutschland entfällt.

1 Siehe Wolfgang Krüger: Eugen Weidmann oder. Die geheimnisvolle Villa in Celle-Saint-Cloud, in: Historische Serienmörder, Band 2, Verlag Kirchschlager, Arnstadt 2009, S. 216-253

Ein Richtstuhl von 1769

Beim Enthaupten knieten die Verurteilten in der Regel, aber auch das Sitzen auf einem Richtstuhl ist belegt. Das Inventar der Herrschaft Scheibbs (im Mostviertel, NÖ) v. 1825 nennt einen roten Richtstuhl zum Enthaupten. Der hier gezeigte Armensünderstuhl trägt auf der Unterseite den Vermerk: „Den 20. 9. 1769 ist gerichtet worden die Maria Rissner vulgo Heinz im Walde“. Ein fast unkenntlicher roter Anstrich symbolisiert das Blut. Der Richtstuhl befindet sich in einer sehr guten rechtshistorischen Sammlung auf Schloß Plöggstall im niederösterreichischen Waldviertel. Die Sammlung wurde einst von Dr. Hans Liebl aufgebaut.

Neuerscheinung: Gerd Franks „Killerpärchen“ – beim Master of True Crime – KIRCHSCHLAGER

Gerd Frank legt mit diesem Sonderband der Totmacher-Reihe ein Buch zum Thema Serienmörderpaare vor. Er präsentiert grauenvolle Beispiele menschlichen Tuns und des menschlichen Sadismus, ausgelebt von unterschiedlichsten Paaren, Familien und Banden, die ihre hauptsächlich sexuell-perversen Neigungen bis zum Mord, ja Serienmord trieben. Dabei können die Fälle nicht unterschiedlicher sein, wenngleich sie sich auch ähneln. Handelten die Benders als Familie, treten uns mit den Ägypterinnen Raya Hasaballah und Sakina Abd el-Aal zwei Schwestern samt ihren Handlangern entgegen.

KIRCHSCHLAGERS KRIMINAL-KABINETT – Festschrift zum Verlagsjubiläum in Vorbereitung

Geschätzte Leserschaft, liebe Freunde des Verlages Kirchschlager! Leider konnten wir im letzten Jahr unsere Festschrift anläßlich unseres 25jährigen Verlagsbestehens nicht realisieren. Wie alle 5 Jahre haben wir qualitative hochwertige Publikationen als Festschriften herausgegeben. Bald nun ist es wieder soweit! Ein Monumentalwerk – KIRCHSCHLAGERS KRIMINAL-KABINETT – Das gestochene Grauen – mit den seltensten Druckgrafiken (Holzschnitte, Kupferstiche, Stahlstiche), Buchillustrationen und Fotos / Ansichtskarten zum Thema Kriminal- und Rechtsgeschichte ist in Vorbereitung. Das großformatige, gebundene und mit bestem Papier gedruckte Werk wird einen Querschnitt der Sammlung des Verlages Kirchschlager zeigen. Natürlich wird diese Festschrift limitiert (999 Exemplare). Der Preis ist sensationell günstig – 29,90 Euro zzgl. ca. 8 Euro Versandspesen, da das Werk hauptsächlich von uns direkt über unseren Onlineshop vertrieben wird. Formlose Voranmeldungen sind ab sofort via Email info@verlag-kirchschlager.de mit Angabe der Anschrift möglich.

Neuerscheinung: Blutspur durch Thüringen

Geschätzte Leserschaft! Ab sofort können Sie alle unsere Bücher auf unserem Onlineshop bei www.verlag-kirchschlager.de bestellen. Auch Neuerscheinungen und noch einige Altbestände für Sammler findet man hier. Daneben gibt es auch zahlreiche Sonderangebote. Manche Titel wie „Historische Serienmörder II“ sind nur noch begrenzt lieferbar; „Karl Denke – Historische Serienmörder III (Sonderband)“ ist vergriffen. Das gilt auch bald für „Serienmörder der DDR“ von Hans Thiers und „Serienmörder des Dritten Reiches“ von Wolfgang Krüger. Wer also noch eine der letzten Harcoverausgaben haben möchte, sollte schnell zugreifen. Unser Band „Historische Serienmörder I“ ist bald wieder leiferbar. Euer Verlger Michael Kirchschlager

PS Trotz Corona arbeiten wir weiter an spannenden Büchern zur Kriminalistik und Kriminalgeschichte. Weitere Blogs auch auf www.kriminalia.de!

Bleibt alle Gesund!

ein grausamlich mord – Ausgewählte Flublätter mit Kriminal- und Rechtsfällen aus der Wickiana

Festschrift zum 20-jährigen Verlagsjubiläum – Herausgegeben von Michael Horn und Michael Kirchschlager, 2015

Die Wickiana-Sammlung ist ein Kabinett der Teufelskünste und der Hinrichtungen. Der Geschichte des Straf- und Prozeßrechts kann keine interessantere Fundgrube für das 16. Jahrhundert beschieden sein. Jahre werden darüber hingehen, bis dieser Schatz allein nach der kriminalistischen Seite hin ausgebeutet sein wird. (Hans Fehr in seinem Vorwort zu „Massenkunst im 16. Jahrhundert“, Berlin 1924)

Inhaltsverzeichnis

I. Die Hinrichtung des Raubmörders Hans Reichart aus Dietfurt a. d. Altmühl (1534)

II. Der Kindesmörder Hans von Berstatt (1542)

III. Jacob Müller – Mörder und Selbstmörder aus Reichenweier (1553)

IV. Eine Hexenverbrennung am Rande des Harzes (1555)

V. Von einem Pfaffen, der eine Schwangere ermordete (1556)

VI. Adam Stägmann – der Familienauslöscher von Obernai (1556)

VII. Der Raubmord an Junker Viktor von Schenitz aus Halle (1572)

VIII. Die Hinrichtung von 34 Seeräubern in Hamburg (1573)

IX. Der Jungfrauenmörder von Tirschenreuth (1573)

X. Die Hinrichtung des Hofjuden Lippold zu Berlin (1573)

XI. Das Ritualmordmärchen von Leitomischl (nach 1573)

Mit dem 16. Jahrhundert setzte nördlich der Alpen das Interesse am Kunstsammeln ein. In ausgeprägter Form vollzog sich dieser Prozeß in den großen Handelsstädten Süddeutschlands, deren Patriziat zu Beginn des 16. Jahrhunderts Träger der wirtschaftlichen und politischen Macht des Reiches war. Doch es entwickelte sich nicht nur die Sammelleidenschaft für Kunst im allgemeinen, es entstanden erste private Bibliotheken, Münzkabinette, Sammlungen von Kleinkunst, Gemälden usw. Parallel zu den Anfängen bürgerlichen Kunstsammelns entbrannte seit der Mitte des 16. Jahrhunderst auch den adligen Höfen eine wahre Sammelleidenschaft. Doch wir wollen mit unserem Blick nicht über jene Raritäten und Antiquitäten streifen, die heute noch in der einen oder anderen „Wunderkammer“ bestaunt werden können, wir wollen unser Interesse auf eine außergewöhnliche „Nachrichtensammlung“ richten.

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„Morduntersuchungskommission“ von Max Annas vs. „Mordfälle im Bezirk Gera“ (Band I-III) von Hans Thiers. Ein Vergleich zwischen Roman und Sachbuch

Die Bücher können nicht unterschiedlicher sein: Der Roman von Krimipreisträger Max Annas „Morduntersuchungskommission“ und die Sachbücher von Kriminalrat a. D. Hans Thiers „Mordfälle im Bezirk Gera I-III“. Die Bücher haben – mehr oder weniger – die Arbeit der Morduntersuchungskommission (MUK) des Bezirks Gera zum Gegenstand. Bei Annas heißt der MUK-Mann Otto Castorp, der Autor der Mordfälle im Bezirk Gera I-III heißt Hans Thiers und war zehn Jahre MUK-Leiter – er ist sozusagen das „Vorbild“ für den „Romanhelden“. Doch beide Personen unterscheiden sich eklatant. Der literarische DDR-Kriminalist ist Alkoholiker und Fremdgeher und wird von seinem Bruder (einem Stasimann) an den Ermittlungen behindert

Hans Thiers – der andere, der echte MUK-Mann, der mit seinem Kollektiv (nicht Team!) eine Aufklärungsquote von 98 % erreicht hat, hat über die Mordfälle im Bezirk Gera drei Bücher geschrieben, sachlich, informativ, mit viellen Quellen unterlegt.

Nach Aussagen des Verlags sei der Roman von Max Annas „der erste große Kriminalroman, der in der DDR spielt.“ Der Inhalt ist konstruiert, soll sich aber an einem wahren Fall orientieren. Fakt ist: Dieser Fall stammt aber nicht aus dem Bezirk Gera (Mitteilung von Hans Thiers).

Zum Inhalt, so wie ihn uns der Verlag vorstellt: „An einer Bahnstrecke nahe Jena wird 1983 eine entstellte Leiche gefunden. Wie ist der junge Mosambikaner zu Tode gekommen? Oberleutnant Otto Castorp von der Morduntersuchungskommission Gera sucht Zeugen und stößt auf Schweigen. Doch Indizien weisen auf ein rassistisches Verbrechen. Als sich dies nicht länger übersehen lässt, werden die Ermittlungen auf Weisung von oben eingestellt. Denn so ein Mord ist in der DDR nicht vorstellbar. Also ermittelt Otto Castorp auf eigene Faust weiter. Und wird dabei beobachtet. Ein eminent politisches Buch nach einem historischen Fall.“

Prof. Frank-Rainer Schurich, ein Kriminologe, schreibt in seinem Nachwort zu dem Buch von Hans Thiers folgendes und bezieht sich auf die tatsächliche Arbeit der MUK des Bezirks Gera, die sich auf Kriminalakten und den Erinnerungen der Kriminalisten stützt:: „Die vorgestellten Berichte, Dokumente und Abbildungen aus der Arbeit der Morduntersuchungskommission Gera zeigen, daß sehr gut ausgebildete Kriminalisten mit hohem Engagement am Werke waren, nicht immer auf Anhieb erfolgreich. Auch der berühmte Kommissar Zufall kam ihnen zu Hilfe – dies unterscheidet die Kripo der DDR wohl kaum von der Kriminalpolizei der alten Bundesrepublik. Und es wird auch sinnfällig, daß gesellschaftlichen Bedingungen zur Vorbeugung von Straftaten und zur Ermittlung von Rechtsverletzern vorhanden waren, bei der oft viele Menschen ohne Sensationsgier, finanzielle Interessen oder Geltungssucht mitwirkten.
Die Fälle sind sachlich, aber dennoch spannend erzählt. Bemerkenswert, daß auch die Schutzpolizisten eine hervorragende Arbeit machten und die Kriminalpolizei unterstützten. Im Fall der Camburger Kindesmörderin Hannelore Philipowski aus dem Jahr 1964 hatte z. B. VP-Hauptwachtmeister Hartje einen Ermittlungsbericht geschrieben, den man heute durchaus in Kriminalistik-Lehrbüchern als Muster abdrucken könnte.
In einigen hier abgedruckten Fällen wird deutlich, daß es in der DDR in erster Linie nicht um die Bestrafung der Täter ging, sondern, falls kein Todesurteil erfolgte, nach Strafverbüßung um die Wiedereingliederung in die Gesellschaft. (…)
Auch der Säuglingsmörder von Neustadt (Orla) aus dem Jahr 1965 wurde zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt, 1980 aber im Rahmen einer Amnestie aus dem Strafvollzug entlassen. Nach der „Wende“ strebte er ein Rehabilitierungsverfahren an, dessen Antrag 1998 vor der 6. Strafkammer des Landgerichts Gera konsequent zurückgewiesen wurde. Die DDR-Justiz hatte Recht gesprochen, so daß der perfide Plan des Mörders, als politisch Verurteilter anerkannt zu werden, kläglich scheiterte.
Dr. Erardo C. Rautenberg (1953-2018), damals Generalstaatsanwalt des Landes Brandenburg, schrieb 2011, passend zu diesem Fall: Der Bundesgerichtshof hat in einer Entscheidung aus dem Jahr 1994 als „allgemeinkundig“ bezeichnet, dass Richter der DDR, zumal in den letzten Jahren, bei der Aburteilung von Taten der gewöhnlichen Kriminalität, insbesondere von Kapitaldelikten, eine Tätigkeit entfaltet haben, die mit dem Wirken von Richtern in der Bundesrepublik Deutschland insofern vergleichbar war, als unter den gegebenen Bedingungen die Verwirklichung von Gerechtigkeit angestrebt wurde. Auch hätten „die Staatsanwälte der DDR bei der Ahndung gewöhnlicher Kriminalität mitgewirkt und damit zum Schutz der Menschen vor solcher Kriminalität beigetragen“. Und Rautenberg ist der Meinung, daß Kriminalisten, Staatsanwälte und Richter in der DDR nicht nur politisch agiert, sondern auch anerkennenswerte Strafverfolgung betrieben haben. Was auch durch Hans Thiers wieder einmal bewiesen wurde.
Zur Gesetzlichkeit und Verwirklichung von Gerechtigkeit kann man z. B. etwas im Fall Rosmarie Morawe aus Ronneburg lesen, die seit dem 15. Mai 1968 vermißt wurde und heute noch vermißt wird. Dem dringend Tatverdächtigen konnte ein Mord nicht nachgewiesen werden, so daß das Ermittlungsverfahren gegen ihn eingestellt wurde. Und bei einer außergewöhnlichen Kindestötung in Jena-Lobeda (1977) hatte die Täterin zwar ein umfassendes Geständnis abgelegt, wurde aber letztlich nur wegen fahrlässiger Tötung mit einem Jahr Freiheitsentzug auf zwei Jahre Bewährung verurteilt. Das Oberste Gericht der DDR hatte in einem Berufungsverfahren festgestellt, daß sie kurz nach der Geburt kurzzeitig bewusstlos gewesen sein soll und sich deshalb nicht umfassend um die Lebenserhaltung des Neugeborenen kümmern konnte.
Hans Thiers verschweigt aber nicht, daß es durchaus Fälle gegeben hat, in denen das Prinzip der Gesetzlichkeit verletzt wurde. So hatte ein Kinderarzt gegen die „Arbeitsanordnung über die Meldepflicht der Ärzte bei Verdacht auf strafbare Handlungen gegen Leben und Gesundheit“ vom 30. Juli 1967 eklatant verstoßen, weil er die massiven Mißhandlungen eines Säuglings nicht anzeigte. Gegen den Kinderfacharzt wurde ein Disziplinarverfahren durchgeführt, das mit einem strengen Verweis endete.
Das Buch beweist zudem, daß die Zusammenarbeit mit den Justizorganen anderer sozialistischen Länder funktionierte. Eine ungarische Staatsbürgerin, die ihre zweijährige Tochter in Elsterberg tötete (1977), wurde in der Ungarischen Volksrepublik zu sieben Jahren Freiheitsentzug verurteilt.
Mehrere Kriminalfälle zeigen, dass vorläufig eingestellte Ermittlungsverfahren bei geringsten Hinweisen in der DDR sofort wieder aktiviert worden sind, um die Schuldigen zu ermitteln. Mit der Bildung der „SOKO Altfälle“ konnten vor allem durch DNA-Spuren in Thüringen noch Mordfälle geklärt werden, nachdem es die DDR nicht mehr gab.
Im Buch entdeckt man verdienstvolle Wissenschaftler und Gutachter: Prof. Dr. med. habil. Gerhard Hansen und Prof. Dr. med. habil. Christiane Kerde vom Institut für Gerichtliche Medizin und Kriminalistik der Universität in Jena, den Psychiater Dr. med. Manfred Ochernal, damals Chefarzt im Haftkrankenhaus Waldheim und Leiter der psychiatrischen Beobachtungsstelle, später Professor an der Sektion Kriminalistik der Humboldt-Universität zu Berlin.
Die vorgestellten Berichte, Dokumente und Abbildungen aus der Arbeit der Morduntersuchungskommission Gera zeigen, daß sehr gut ausgebildete Kriminalisten mit hohem Engagement am Werke waren, nicht immer auf Anhieb erfolgreich. Auch der berühmte Kommissar Zufall kam ihnen zu Hilfe – dies unterscheidet die Kripo der DDR wohl kaum von der Kriminalpolizei der alten Bundesrepublik. Und es wird auch sinnfällig, daß gesellschaftlichen Bedingungen zur Vorbeugung von Straftaten und zur Ermittlung von Rechtsverletzern vorhanden waren, bei der oft viele Menschen ohne Sensationsgier, finanzielle Interessen oder Geltungssucht mitwirkten.
Die Fälle sind sachlich, aber dennoch spannend erzählt. Bemerkenswert, daß auch die Schutzpolizisten eine hervorragende Arbeit machten und die Kriminalpolizei unterstützten. Im Fall der Camburger Kindesmörderin Hannelore Philipowski aus dem Jahr 1964 hatte z. B. VP-Hauptwachtmeister Hartje einen Ermittlungsbericht geschrieben, den man heute durchaus in Kriminalistik-Lehrbüchern als Muster abdrucken könnte.
In einigen hier abgedruckten Fällen wird deutlich, daß es in der DDR in erster Linie nicht um die Bestrafung der Täter ging, sondern, falls kein Todesurteil erfolgte, nach Strafverbüßung um die Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Die schon genannte Hannelore Philipowski, zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt, verbüßte für die Tötung ihrer beiden Mädchen zwölf Jahre in der Strafvollzugsanstalt Hoheneck in Stollberg (Erzgebirge) und wurde dann auf Bewährung entlassen.
Auch der Säuglingsmörder von Neustadt (Orla) aus dem Jahr 1965 wurde zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt, 1980 aber im Rahmen einer Amnestie aus dem Strafvollzug entlassen. Nach der „Wende“ strebte er ein Rehabilitierungsverfahren an, dessen Antrag 1998 vor der 6. Strafkammer des Landgerichts Gera konsequent zurückgewiesen wurde. Die DDR-Justiz hatte Recht gesprochen, so daß der perfide Plan des Mörders, als politisch Verurteilter anerkannt zu werden, kläglich scheiterte.
Dr. Erardo C. Rautenberg (1953-2018), damals Generalstaatsanwalt des Landes Brandenburg, schrieb 2011, passend zu diesem Fall: Der Bundesgerichtshof hat in einer Entscheidung aus dem Jahr 1994 als „allgemeinkundig“ bezeichnet, dass Richter der DDR, zumal in den letzten Jahren, bei der Aburteilung von Taten der gewöhnlichen Kriminalität, insbesondere von Kapitaldelikten, eine Tätigkeit entfaltet haben, die mit dem Wirken von Richtern in der Bundesrepublik Deutschland insofern vergleichbar war, als unter den gegebenen Bedingungen die Verwirklichung von Gerechtigkeit angestrebt wurde. Auch hätten „die Staatsanwälte der DDR bei der Ahndung gewöhnlicher Kriminalität mitgewirkt und damit zum Schutz der Menschen vor solcher Kriminalität beigetragen“. Und Rautenberg ist der Meinung, daß Kriminalisten, Staatsanwälte und Richter in der DDR nicht nur politisch agiert, sondern auch anerkennenswerte Strafverfolgung betrieben haben. Was auch durch Hans Thiers wieder einmal bewiesen wurde.
Zur Gesetzlichkeit und Verwirklichung von Gerechtigkeit kann man z. B. etwas im Fall Rosmarie Morawe aus Ronneburg lesen, die seit dem 15. Mai 1968 vermißt wurde und heute noch vermißt wird. Dem dringend Tatverdächtigen konnte ein Mord nicht nachgewiesen werden, so daß das Ermittlungsverfahren gegen ihn eingestellt wurde. Und bei einer außergewöhnlichen Kindestötung in Jena-Lobeda (1977) hatte die Täterin zwar ein umfassendes Geständnis abgelegt, wurde aber letztlich nur wegen fahrlässiger Tötung mit einem Jahr Freiheitsentzug auf zwei Jahre Bewährung verurteilt. Das Oberste Gericht der DDR hatte in einem Berufungsverfahren festgestellt, daß sie kurz nach der Geburt kurzzeitig bewusstlos gewesen sein soll und sich deshalb nicht umfassend um die Lebenserhaltung des Neugeborenen kümmern konnte.
Hans Thiers verschweigt aber nicht, daß es durchaus Fälle gegeben hat, in denen das Prinzip der Gesetzlichkeit verletzt wurde. So hatte ein Kinderarzt gegen die „Arbeitsanordnung über die Meldepflicht der Ärzte bei Verdacht auf strafbare Handlungen gegen Leben und Gesundheit“ vom 30. Juli 1967 eklatant verstoßen, weil er die massiven Mißhandlungen eines Säuglings nicht anzeigte. Gegen den Kinderfacharzt wurde ein Disziplinarverfahren durchgeführt, das mit einem strengen Verweis endete.
Das Buch beweist zudem, daß die Zusammenarbeit mit den Justizorganen anderer sozialistischen Länder funktionierte. Eine ungarische Staatsbürgerin, die ihre zweijährige Tochter in Elsterberg tötete (1977), wurde in der Ungarischen Volksrepublik zu sieben Jahren Freiheitsentzug verurteilt.
Mehrere Kriminalfälle zeigen, dass vorläufig eingestellte Ermittlungsverfahren bei geringsten Hinweisen in der DDR sofort wieder aktiviert worden sind, um die Schuldigen zu ermitteln. Mit der Bildung der „SOKO Altfälle“ konnten vor allem durch DNA-Spuren in Thüringen noch Mordfälle geklärt werden, nachdem es die DDR nicht mehr gab.
Im Buch entdeckt man verdienstvolle Wissenschaftler und Gutachter: Prof. Dr. med. habil. Gerhard Hansen und Prof. Dr. med. habil. Christiane Kerde vom Institut für Gerichtliche Medizin und Kriminalistik der Universität in Jena, den Psychiater Dr. med. Manfred Ochernal, damals Chefarzt im Haftkrankenhaus Waldheim und Leiter der psychiatrischen Beobachtungsstelle, später Professor an der Sektion Kriminalistik der Humboldt-Universität zu Berlin.

Zu fragen wäre in diesem Nachwort, in welcher Weise die Kriminalität in der DDR und der alten BRD verglichen werden kann. Von besonderem Interesse sind hier die Zahlen hinsichtlich der vorsätzlichen Tötungsdelikte. 1988 wurden in der DDR 113 Verbrechen gezählt (eine Straftat auf 100.000 Einwohner), in der BRD dagegen 2.518 (vier auf 100.000 Einwohner).
Und wie war es generell mit der Kriminalität? Rainer Eppelmann und seine Mitstreiter verbreiten in ihrem „Lexikon des DDR-Sozialismus“, daß der „Ausweis einer wesentlich niedrigeren Kriminalität als in der Bundesrepublik … durch entsprechende Anwendung der Einstellung der Verfahren wegen Geringfügigkeit oder Übergabe an eine Konfliktkommission … nicht schlüssig“ ist. Diese Aussage kann so interpretiert werden, daß es in der DDR wie in der alten BRD eine hohe Kriminalitätsrate gab, die aber fein säuberlich verschwiegen wurde und deren Zahlen das Politbüro nächtelang heruntermanipulierte, damit es anderntags nicht etwa erschrak und Herzschrittmacher anfordern mußte, wenn man sich die Statistiken aus dem „Neuen Deutschland“ kollektiv vorlas.
Aber die Wirklichkeit sah etwas anders aus. Legt man die durchschnittliche Kriminalitätsbelastung Mitte der 1980er Jahre zugrunde, war die polizeilich registrierte Kriminalität in der BRD rund zehnmal höher als in der DDR. Für das Jahr 1988 bedeutete dies konkret, daß in der DDR 119.124 Vergehen und Verbrechen erfasst wurden (715 pro 100.000 Einwohner), in der BRD dagegen 4.356.726 (7.094 pro 100.000 Einwohner).
Der Hamburger Kriminologe Fritz Sack schrieb zu diesem Thema, daß die Statistik allenfalls einen Überblick darüber gebe, wo die Polizei ihre Ressourcen einsetzt, also mehr eine bloße Umschreibung der selektiven Mechanismen der Strafverfolgung sei. Und so, wie man schlechterdings Äpfel mit Birnen vergleichen kann, sind auch die Kriminalstatistiken zweier Staaten nur mit Einschränkungen vergleichbar, weil es unterschiedliche Strafgesetze und Erfassungsgrundlagen sowie auf beiden Seiten verschiedene Möglichkeiten gab, die Zahlenkolonnen zu manipulieren.
Die „Berliner Projektgruppe Kriminologie“ hatte 1991 bereits gemutmaßt, daß es 1988 in Wirklichkeit 393.900 angezeigte Straftaten gegeben hat, während die offizielle Kriminalstatistik nur 119.000 auswies. Das läßt sich unter anderem damit erklären, daß in der BRD Fälle, in der DDR Anzeigen/Verfahren gezählt wurden, wobei neue Anzeigen laufenden Verfahren zugeordnet werden konnten, wenn innere Tatzusammenhänge nachweisbar waren. Hinzu kam, daß Fahrraddiebstähle (1988: ca. 94.800 – die quasi entkriminalisiert „Fahrradverluste“ hießen), geringfügige Eigentumsverfehlungen bis 100 Mark (1988: ca. 66.700) und Kinderdelikte (1988: ca. 1.700) keine Chance hatten, in den Tabellen des statistischen Jahrbuchs aufzutauchen.
Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Auf der anderen Seite zählte man in der DDR Straftaten, die es im Westen gar nicht gab, ja gar nicht geben durfte (zum Beispiel § 213 StGB: „Ungesetzlicher Grenzübertritt“, § 249 StGB: „Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch asoziales Verhalten“) oder die dort nicht mehr mitgerechnet wurden, wie die Verkehrsstraftaten, die man in der BRD schon 1963 aus der Statistik nahm, um den wenig erfreulichen Kriminalitätsanstieg ein wenig zu kaschieren.
Der Abteilungsdirektor im Bundeskriminalamt Edwin Kube faßte 1993 in einem Aufsatz die Zahlenspielerei volkstümlich zusammen: „Damit ergibt sich im Verhältnis zur ehemaligen DDR für die ‚alte‘ Bundesrepublik eine etwa drei- bis vierfach (statt 10fach) so hohe Häufigkeitszahl, in Zahlen: etwa 2.000 zu 7.500.“
Und auch dies noch: Fünf Jahre nach der deutschen Einheit fragte sich Prof. Dr. iur. Dipl.-Psych. Robert Northoff, damals tätig an der Fachhochschule Neubrandenburg, Bereich Sozialwesen, unter der Überschrift „Ohne Vorurteil und Verlegenheit“ in der Fachzeitschrift „Kriminalistik“ unter anderem, ob denn die DDR ein kriminalpräventives Gesamtkunstwerk gewesen sei. Seine anerkennungswerten Untersuchungen belegen, „dass die DDR bezogen auf die Kriminalität privater Personen der sicherere Staat gewesen ist“ und daß „der ganzheitlich, gesellschaftsorientierte Ansatz der DDR (zur Kriminalitätsvorbeugung – FRS) im Kern durchaus fortschrittlich“ war. So kam Robert Northoff gar nicht an der pragmatischen Frage vorbei, ob denn nicht bestimmte kriminalitätsrelevante gesellschaftliche Rahmenbedingungen der DDR auch in einem vereinigten Deutschland ihren Platz finden könnten … Dazu kam es aber, wie wir heute wissen, leider nicht.

Mord und Totschlag in 23 Fällen – das ist schon eine Lektüre, die aufwühlt und die Leser in eine Wirklichkeit entführt, die es eben auch gab. Das Buch von Hans Thiers widerspiegelt ausschnittsweise, quasi als Soziogramm, die realen Lebensbedingungen von Menschen, die es im Alltag schwer hatten und aus verschiedenen Gründen mit ihrem Leben nicht zurechtkamen. Bier und Hochprozentiges, beides preiswert, spielten in vielen Fällen der Gewaltkriminalität eine Rolle, was darauf hinweist, daß Alkoholismus auch in der DDR ein soziales Problem war. Es wird zudem von einem Mörder berichtet, der mit der Leiche der Frau noch Geschlechtsverkehr vornahm; ein anderer Thüringer führte in die Scheide des toten Opfers eine Kerze und einen Kochlöffel ein.
Bei einem erweiterten Suizid in Kleinfalke (1974) wollte der Täter, der Freundin und ihre Tochter getötet hatte, alle Spuren verwischen und das Haus anzünden, aber er verwechselte die Kanister. Statt Benzin schüttete er Diesel auf den Boden und zündete ihn an, bevor er sich mit der Schrotflinte in den Mund schoß. So konnte nur eine kleine Brandstelle im Wohnzimmer vorgefunden werden.
Hans Thiers kommentiert hierzu, dass Menschen in ihrer Verzweiflung oft keinen vernünftigen Ausweg mehr sehen. Wie auch im Fall eines erweiterten Suizids in Gera 1986, bei dem eine verzweifelte Mutter ihre 13 Jahre alte Tochter tötete – nach einem teuflischen Plan. Aber diese Geschichte muß man einfach selbst lesen.

Die hier vorgestellten Morde aus dem Bezirk Gera werfen ein Schlaglicht auf ein gesellschaftliches Phänomen, das zu Zeiten der DDR vergessen und verdrängt werden sollte. Heute erscheinen die 23 Fälle wie Mosaiksteine, die sich unkaschiert einfügen in ein realistisches Bild von der tatsächlichen inneren Verfaßtheit der zweiten deutschen Republik. Denn obwohl man es nicht wahrhaben wollte, es gab sie intra muros alle: Mörder, Totschläger, Selbstmörder, die andere Personen mit in den Tod nahmen, Leichenschänder und andere Personen mit abweichendem Sexualverhalten. Es gab sie alle in der kleinen DDR, diesem ganz normalen Land.“