ein grausamlich mord – Ausgewählte Flublätter mit Kriminal- und Rechtsfällen aus der Wickiana

Festschrift zum 20-jährigen Verlagsjubiläum – Herausgegeben von Michael Horn und Michael Kirchschlager, 2015

Die Wickiana-Sammlung ist ein Kabinett der Teufelskünste und der Hinrichtungen. Der Geschichte des Straf- und Prozeßrechts kann keine interessantere Fundgrube für das 16. Jahrhundert beschieden sein. Jahre werden darüber hingehen, bis dieser Schatz allein nach der kriminalistischen Seite hin ausgebeutet sein wird. (Hans Fehr in seinem Vorwort zu „Massenkunst im 16. Jahrhundert“, Berlin 1924)

Inhaltsverzeichnis

I. Die Hinrichtung des Raubmörders Hans Reichart aus Dietfurt a. d. Altmühl (1534)

II. Der Kindesmörder Hans von Berstatt (1542)

III. Jacob Müller – Mörder und Selbstmörder aus Reichenweier (1553)

IV. Eine Hexenverbrennung am Rande des Harzes (1555)

V. Von einem Pfaffen, der eine Schwangere ermordete (1556)

VI. Adam Stägmann – der Familienauslöscher von Obernai (1556)

VII. Der Raubmord an Junker Viktor von Schenitz aus Halle (1572)

VIII. Die Hinrichtung von 34 Seeräubern in Hamburg (1573)

IX. Der Jungfrauenmörder von Tirschenreuth (1573)

X. Die Hinrichtung des Hofjuden Lippold zu Berlin (1573)

XI. Das Ritualmordmärchen von Leitomischl (nach 1573)

Mit dem 16. Jahrhundert setzte nördlich der Alpen das Interesse am Kunstsammeln ein. In ausgeprägter Form vollzog sich dieser Prozeß in den großen Handelsstädten Süddeutschlands, deren Patriziat zu Beginn des 16. Jahrhunderts Träger der wirtschaftlichen und politischen Macht des Reiches war. Doch es entwickelte sich nicht nur die Sammelleidenschaft für Kunst im allgemeinen, es entstanden erste private Bibliotheken, Münzkabinette, Sammlungen von Kleinkunst, Gemälden usw. Parallel zu den Anfängen bürgerlichen Kunstsammelns entbrannte seit der Mitte des 16. Jahrhunderst auch den adligen Höfen eine wahre Sammelleidenschaft. Doch wir wollen mit unserem Blick nicht über jene Raritäten und Antiquitäten streifen, die heute noch in der einen oder anderen „Wunderkammer“ bestaunt werden können, wir wollen unser Interesse auf eine außergewöhnliche „Nachrichtensammlung“ richten.

Verbrechen, noch dazu höchst spektakuläre, fast unglaubhafte, wie das des Österreichers Josef Fritzel, der seine Tochter von 1984 bis zum Jahre 2008 in einer Wohnung unterhalb seines Hauses in Amstetten gefangen hielt, vergewaltigte und mit ihr sieben Kinder zeugte oder der Massenmord des Norwegers Anders Behring Breivik im Juli 2014 auf der Insel Utøya, der 77 zumeist jungen Menschen das Leben kostete, stießen – wie alle Meldungen dieser Art – auf ein breites Medieninteresse. Weltweit verfolgten Millionen von Menschen an ihren Fernsehbildschirmen die Nachrichten „vom Geschehen vor Ort“ in „Echtzeit“. Das neue Medium Internet schafft die Möglichkeit blitzschnell weltweit auf unterschiedlichste Informationen zuzugreifen. Innerhalb von Sekunden verbreiten sich die neuesten Nachrichten im „World Wide Web“. Nicht zuletzt wirken sich die unterschiedlichsten Arten von Internetnachrichten selbst auf das politische Geschehen ganzer Regionen aus. Fernsehen, Radio und Internet gehören zu den „Massenkommunikationsmitteln“ des 21. Jahrhunderts schlechthin. Gedruckte Zeitungen und Magazine bleiben heute nach und nach auf der Strecke. Drucke waren es jedoch, die seit der frühen Neuzeit für Informationsverbreitung sorgten.

Das Massenkommunikationsmittel der Frühen Neuzeit schlechthin war das illustrierte Flugblatt. Diese, mittlerweile äußerst seltenen und kostbaren Drucke gehören neben Mandat, Landkarten oder Kunstgrafik zur Gruppe der Einblattdrucke. Besteht ein Flugblatt, oft auch „Newe Zeittung“ genannt, aus mehreren Blättern, spricht man hingegen von einer Flugschrift. Unter dem Begriff des illustrierten Flugblatts läßt sich also „eine Gruppe von Einblattdrucken zusammenfassen, die in der Regel ein ausgewogenes Verhältnis von Bild und Text aufweisen, im Hochformat einen halben oder ganzen Druckbogen füllen und außer der Graphik auch Typendruck enthalten.“1 Neben dem Typendruck kommen auch gestochene oder geschnittene Schriften vor.

Die Auflagenhöhen der Flugblätter lagen zwischen 1000 und 2000 Abzüge. Um eine breite Leser- bzw. Käuferschaft zu erreichen war nur ein geringer Teil der Flugblätter in lateinischer Sprache abgefaßt oder enthielt lateinische Zitate. Nach modernen Schätzungen belief sich die Lesefähigkeit in den Städten der Frühen Neuzeit auf höchstens 10 Prozent. Dennoch werden auch leseunkundige Kunden das Flugblatt erworben oder in Auslagen gesehen haben, denn der Inhalt des Blatts wurde zumeist über die graphische Darstellung vermittelt. Auch öffentliche „Vorlesungen“ kann man sich vorstellen. Man sieht darin einen neuen Grad von literarischer Öffentlichkeit. Gleichzeitig bediente das Flugblatt, ähnlich heutiger Zeitungserzeugnisse, dem „Bedürfnis“ nach Voyerismus. Die Verbreitung ungeheuerlicher Nachrichten vollzieht sich am besten über entsprechende Bilder und Überschriften. Wie alle literarischen Erzeugnisse unterlagen auch die Flugblätter der Zensur.

Zur Herstellung eines farbigen Einzelblattdruckes war die Zusammenarbeit unterschiedlicher Handwerker und Gewerke nötig. Ein Formschneider konnte entweder anhand einer vom Künstler unmittelbar auf dem präparierten Druckstock angefertigen Zeichnung arbeiten oder bereits eine zeichnerische Forlage nutzen, die von einem Reißer auf den Druckstock übertragen worden war. Schließlich entschied der Drucker, ob er seine Druckstöcke färbte, oder einen Briefmaler hinzuzog. Manchmal fand sich der Drucker, Formschneider und Briefmaler in einer Person, wie wir es von Hans Weigel dem Älteren kennen.2

Zu den bedeutendsten Nachrichtensammlungen von Einblattdrucken und von illustrierten Flugblättern des 16. Jahrhunderts zählt die „Wickiana“ des Johann Jakob Wick (1522-1588), deren Zeitzeugnisse eines der interessantesten Epochenarchive bilden.
Johann Jacob Wick, dem die Sammlung ihren Namen verdankt, war von 1552 bis 1557 Pfarrer an der Predigerkirche in Zürich und danach Chorherr und zweiter Archidiakon am Grossmünster. Das Grossmünster ist eine evangelisch-reformierte Kirche in der Altstadt von Zürich mit den Kirchenpatronen Felix und Regula sowie Exuperantius. Bis zur Reformation war das Grossmünster zugleich Teil eines weltlichen Chorherrenstifts und Pfarrkirche. Das Grossmünster gehört zusammen mit dem Fraumünster und der St. Peter Kirche zu den bekanntesten Kirchen der Stadt Zürich, deren charakteristischen Doppeltürme das eigentliche Wahrzeichen Zürichs darstellen. In einem Wahlvorschlag wird Wick „ein frommer, gelerter und zügsamer man“ genannt.

Seine Biographie ist nicht so aufsehenerregend, daß die Zeitgenossen sich über Gebühr dafür interessiert hätten. Über seine Eltern ist wenig bekannt, sein Großvater Hans Wick war Weibel im Rathaus. 1533 kam Wick als Schüler in die von Heinrich Bullinger geführten Lateinschule im ehemaligen Kloster Kappel. Nach Beendigung seiner Ausbildung widmete er sich in Tübingen (1540) und Marburg theologischen Studien. Danach wirkte er als Pfarrer in Zürich-Witikon sowie in der Zürcher Landgemeinde Egg.
Von 1557 bis 1575 arbeitete Wick eng mit dem Reformator und Antistes (Vorsteher) der Zürcher reformierten Kirchen Heinrich Bullinger (1504-1575) zusammen, dem er von früh an freundschaftlich verbunden war. Er vertrat ihn mehrmals im Gottesdienst und stand 1564 Pate bei dessen Enkelin Susanna. Freundschaften pflegte er zudem mit dem Reformater und Nachfolger Bullingers Rudolf Gwalter (1519-1586), dem ehemaligen Kommilitonen in Marburg, und dem fünf Jahre jüngeren Reformator und Antistes Ludwig Lavater (1527-1586).
Um die Geisteswelt Wicks und seiner Zeitgenossen zu verstehen, sei als Beispiel ein Druck Lavaters von 1578 erwähnt, der bei Christoph Froschauer gedruckt wurde. Darin beschäftigt sich der Autor ernsthaft und ausführlich über vermeintlich eund wirkliche Gespenster, über vorzeichenhafte Erscheinungen und das Treiben des Teufels. Überhaupt scheint der Teufel die Zeit „besessen“ zu haben. Der geschätzten Leserschaft wird er in dieser Festschrift des öfteren begegnen.

An dieser Stelle ist man geneigt, der nüchternen Beschreibung der Biographie unseres Nachrichtensammlers, die Bemerkungen des Schweizer Rechtshistorikers Hans Fehr (1874-1961) „unterzuschieben“, der erstmals 1924 die Flugblätter aus der Sammlung Wickiana, einem größeren Publikum vorgestellt hat.
Fehr beschreibt Wick und seine Sammlung wie folgt: In Zürich lebte ein merkwürdiger Mann: Johann Jakob Wick. Seine Geburt fällt in das Jahr 1522, sein Tod in das Jahr 1588. Seines Zeichens war er ein zum Protestantismus übergetretener Geistlicher und Chorherr in Zürich. Dieser Mann setzte sich zur Aufgabe, alle Merkwürdigkeiten seiner Zeit zu sammeln. Er wandte sich an alle Freunde und Bekannten mit der Bitte, ihn in seinem Sammeleifer zu unterstützen, und erstellte Leute in seinen Dienst, die für ihn schrieben und sammelten. Allerorts fand er williges gehör. Aber mit schriftlichen Beiträgen war der eigenartige Kauz nicht zufrieden. Wo immer ein Bild zum Text ausgegeben war, oder wo immer der Mitsammler selbst ein solches malen konnte, bat Wick um die Einlieferung solcher Blätter. Er selbst war unermüdlich tätig. Er schrieb, kopierte, zeichnete und pinselte mit unbeholfener Hand, aber immer anschaulich und plastisch. Alles Artistische war ihm fremd. Seine Kunst bestand im Sammeln, im unermüdlichen Sammeln. Und dabei ging er wahllos zu Werke. Ob gut, ob schlecht, ob wahr oder verfälscht, ob schlicht, ob dramatisch, ob alltäglich, ob höchst verwunderlich: Alles raffte er zusammen und speicherte es in seiner Sammlung auf. […] Die Sensation war seine schwache Seite. Er läßt den zweiten BAnd überschreiben: Der ander theil dieser Wunderbüchern. Als Protestant war er voll Haß gegen das Papsttum und seine Diener. Wo er Verspottungen und Schmähungen der Kirch fassen konnte, nahm er sie mit Behagen unter seien Blätter auf.3

Der Chorherr Wick versah sein Amt gewissenhaft und war noch bis ins hohe Alter hinein rüstig. Als am 20. Mai 1588 die Städte Zürich, Bern und Straßburg ein Bündnis schlossen, zogen die Bürger der drei Städte zum Schwur geharnischt vor die Tore der Stadt Zürich. Handschriftlich erinnert sich Wick an ein ähnliches Ereignis, welches er als Siebenjähriger erlebt hat. Do [im Jahre 1530] zog ich Hans Jacob Wik auch mitt sampt anderen iungen knaben, den frömbden herren engegen, […] was zur selbigen zyt siben iar alt; wie auch jez ich mit sampt der burgerschafft innen under einem spiess und ganzem harnisch engegen zogen bin, mins alters 65 iar, und (Gott hab lob) noch frisch und gsund mit verwunderung der ganzen statt.4
In seiner Zeit am Grossmünster trug er von 1559 bis 1588 aktuelle Zeugnisse chronologisch zusammen. Weitere Materialien aus der Zeit von zirca 1505 bis 1559 gliederte Wick seinen Kollektaneen ein.

Neben den gedruckten Blättern enthält die Wickiana zahlreiche Berichte und Abhandlungen über Kriminal- und Rechtsfälle in Form von handschriftlichen Berichten und aquarellierten Zeichnungen. Die Sammlung ist in 24 Foliobände gebunden. Nach dem Tod Wicks 1588 gelangte die Sammlung in die Stiftsbibliothek des Grossmünsters und 1836 in die Stadtbibliothek Zürich. Neben einer großen Zahl von Drucken aus dem deutschsprachigen Raum sind auch 52 fremdsprachige Exemplare zu verzeichnen. Eine Vielzahl der Blätter stammt aus so bedeutenden Zentren des Buchdrucks wie Augsburg, Nürnberg und Straßburg. In Bild und Text berichten die Drucke unter anderem von Naturereignissen – Kometen, Erdbeben oder Fluten –, von Mißgeburten, Verbrechen, geschichtlichen Ereignissen, Gespenstern und vielem mehr. Die Sammlung kann als Reflex auf das Krisenbewußtsein in einer Zeit konfessioneller und politischer Unsicherheit verstanden werden. Der erste Zürcher Reformator Huldrych Zwingli (1484-1531) sah das Weltende unmittelbar bevorstehen. Die zumeist greulichen Nachrichten dürften von Wick und seinen Zeitgenossen als Vorboten des Jüngsten Gerichts gedeutet worden sein.

Kommen wir am Schluß noch einmal zu Hans Fehr zurück, der sich eine „größere Ausgabe, nicht nach zufälligen, sondern nach festen Gesichtspunkten geordnet“, wünschte. Diese Art der Ausgabe wurde von Wolfgang Harms und Michael Schilling realisiert6.

Die Carolina – Über die Rechtsprechung in der Frühen Neuzeit

Um die zweifelhaften Strafen, die grausamen Exekutionen und Hinrichtungsrituale auf den Flugblättern Wicks besser verstehen zu können, macht sich ein Gang in die Rechtsgeschichte der Frühen Neuzeit notwendig. Maßgeblich prägend war für diese Zeit die sogenannte Carolina, nach dem Sachsenspiegel aus dem 13. Jahrhundert wohl das bekannteste Zeugnis deutscher Rechtsprechung bis zum Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich von 1871.
Carolina ist der Name der Reichs-Halsgerichtsordnung Karls V. vom Jahre 1532. Während das Strafrecht im Mittelalter nur in unvollkommenen Aufzeichnungen meist lokaler Herkunft, in den Reichsgesetzen, in den Rechtsspiegeln, den Stadtrechten oder nach mündlicher Überlieferung vorhanden gewesen war, fanden im 15. Jahrhundert die auf das kanonische und römische Recht gebauten Schriften der italienischen Praktiker Eingang und veranlaßten eine Reihe nach den Grundsätzen dieser neuen Jurisprudenz hergestellter Halsgerichtsordnungen. Bedeutend wurde namentlich die durch Johann Freiherrn zu Schwarzenberg verfaßte Bamberger Halsgerichtsordnung vom Jahre 1507. Ihr folgte 1516 die Brandenburgische Halsgerichtsordnung. Auf Anregung des Kammergerichts wurde die Halsgerichtsordnung Kaiser Karls auf dem Augsburger Hoftag von 1532 vom Reichstag verabschiedet und vom Kaiser in Kraft gesetzt.
Die Carolina, wie sie erst später genannt wurde, oder Constitutio criminalis Carolina besteht aus 219 Artikeln und gehört neben der Goldenen Bulle (1356) und dem Augsburger Religionsfriede (1555) zu den wichtigsten Reichsgesetzen. Sie stellt eines der zentralen Dokumente der deutschen Rechtsgeschichte dar und wird oft als Quelle der Rechtserkenntnis gewürdigt.
Sie enthält eine umfassende Regelung des Strafrechts und des Strafprozeßrechts, soweit es sich um Delikte handelt, die an Leben, Körper, Ehre und Gliedern zu ahnden waren. Andere, geringfügige Straftaten sind kaum behandelt und der Regelung in den Polizeiordnungen oder den territorialen Statuten überlassen.
Notwendig wurde sie aus den Unbilden der Zeit heraus: wir befinden uns im Zeitalter der Bauernkriege und Reformation, in einer Zeit großer Umwälzungen und – Ungerechtigkeiten

Trotz des Anspruches der Carolina, ein Gesetzeswerk zu sein, kannte
die Frühe Neuzeit Hinrichtungen für Straftaten, die heute nur noch
von der katholischen Kirche geahndet werden. Wegen Ehebruchs wurden
die beiden oben dargestellten Personen auf schauderhafte Weise hingerichtet.

Zum Inhalt der Carolina: Am Anfang befaßt sich das Gesetz mit der Einleitung
des Verfahrens, dem Ermittlungsverfahren und den handelnden Personen, wie Richter, Schöffen, Gerichtsschreiber. Das Beweisrecht ist eingehend geregelt. Ab Artikel 78 folgen das Urteilsverfahren und die Vollstreckung. Die Artikel 104 bis 180 betreffen das materielle Strafrecht im heutigen Sinne. Die Artikel 192 bis 198 bennen die verschiedenen peinlichen Strafen denen einige Schlußvorschriften folgen. Im Artikel 218 wird festgelegt, welche örtlichen Rechtsgebräuche als Mißbräuche durch die Carolina abgeschafft sein sollen.

In Artikel 6 wird die Einleitung des Verfahrens von Amts wegen behandelt. Besonderer Wert wird darauf gelegt, daß der Richter nicht sofort zur Folter schreitet, sondern zunächst den Sachverhalt erforscht und prüft, ob solche Indiztatsachen vorliegen, die nach der Carolina allein zur Folter berechtigen.
Für eine Verurteilung gab es zwei Beweisverfahren. Das eine war das Urteil aufgrund Geständnisses, das andere die Aussage zweier guter Zeugen, die die Tat aus eigenem Wissen bekunden konnten. In der Praxis überwog eindeutig die Verurteilung aufgrund Geständnisses, was im Hinblick auf die Zulässigkeit der Folter – deren Art und Dauer im Ermessen des Richters stand (Artikel 58) – nicht verwunderlich sein dürfte. Allerdings hatte die Verurteilung aufgrund der Aussagen zweier Zeugen Bedeutung für den Fall, daß der Beschuldigte nach der Folter sein Geständnis widerrief. In diesem Fall wurde weiter gefoltert (wie im Falle des Hofjuden Lipmann) oder die bei der Folterung anwesenden Schöffen dienten als die zur Überführung ausreichenden Zeugen.
Die Carolina schaffte die Folter nicht ab, aber sie schaffte Vorschriften, die die Zulässigkeit der „peinlichen Frage“ regelten. Zulässig war die Folter nur, wenn ausreichend Indizien vorlagen, die durch zwei gute Zeugen bewiesen wurden. Es gab allgemeine Indizien (schlechter Leumund, Beobachtung auf dem Wege zum oder vom Tatort und spezielle Indizien (der Verdächtige ist zur Tatzeit mit blutigen Kleidern oder Waffen gesehen worden). Manche Indizien reichten allein, andere nur zusammen mit anderen Anzeichen für die Folter. Fehlt es an solchen Indiztatsachen, ist ein unter der Folter abgelegtes Geständnis unverwertbar und berechtigt zum Schadensersatz. Der Richter hat Entlastungsbeweise vor der Folter zu berücksichtigen und zu prüfen, und auch das unter der Folter abgelegte Geständnis ist durch eingehende Befragung des Beschuldigten über die Umstände der Tat zu überprüfen. In vielen Fällen war das natürlich reine Theorie. Dennoch wurde schon auf „Täterwissen“ besonderer Wert gelegt.
Nach dem Abschluß des Beweisverfahrens wurde das Urteil abgefaßt und erst dann gelangte die Sache zum „Endlichen Rechtstag“, der öffentlichen Verhandlung und der Verkündung des Urteils. Nach dieser Tradition konnte Recht nur durch Öffentlichkeit entstehen – Hinrichtungen fanden demnach vor tausenden Menschen statt. Es bedurfte daher eines solchen Aktes, in dem das Geständnis als Sachurteilsvoraussetzung zu wiederholen war. Erst zu diesem Zeitpunkt erhielt der Angeklagte einen „Fürsprecher“. Nach der Verkündung des Urteils zerbrach der Richter einen Stab, oft über dem Kopf des Verurteilten. Ein Rechtsmittel, d. i. die Anfechtung einer gerichtlichen Entscheidung, gab es nicht! Das Urteil wurde sofort vollstreckt. Als Strafen gab es nur die unterschiedlichen Arten der Todesstrafe (Räderung für Mord mit sogenannten Kombinationsstrafen, wie das reißen mit glühenden Zangen und die Ausschleifung auf einer Kuhhaut oder einem Schlitten zur Richtstatt), Verstümmelungsstrafen und entehrende Strafen. Freiheitsentziehung kam als Strafe des Kerkers in einem einzigen Fall vor, Geldstrafen waren in der Carolina nicht vorgesehen. Als Strafe der Mörder und Totschläger sah die Carolina folgendes vor: ITem eyn jeder mörder oder todtschläger wo er deßhalb nit rechtmessig entschuldigung außfüren kan / hat das leben verwürckt. Aber nach gewonheyt etlicher gegent / werden die fürsetzlichen mörder vnd die todtschleger eynander gleich mit dem radt gericht / darinnen soll vnderscheydt gehalten werden / Vnd also daß der gewonheyt nach / ein fürsetzlicher muotwilliger mörder mit dem rade / vnnd eynander der eyn todtschlag / oder auß gecheyt vnd zorn gethan / vnd sunst auch gemelte entschuldigung nit hat / mit dem schwert vom leben zuom todt gestrafft werden sollen / Vnd man mag inn fürgesetztem mordt / so der an hohen trefflichen personen des thetters eygen herrn / zwischen eheleuten oder nahend gesipten freunden geschicht / durch etlich leibstraff als mit zangen reissenn oder außschleyffung vor der entlichen tödtung vmb grösser forcht willen die straff meren.

In der zentralen Funktion des Geständnisses lag vermutlich ein Formalakt begründet, eine Prozeßhandlung, deren inhaltliche Richtigkeit nicht zu prüfen war, ähnlich den Formalbeweisen (Reinigungseid und Gottesurteil) früherer Zeiten.
In der Präzisierung der Tatbestände und in der Herausarbeitung von allgemeinen Lehren erzielt die Carolina bemerkenswerte Fortschriftte. Die Tötungsdelikte werden danach unterschieden, ob jemand aus Überlegung („fürsetzlicher Mörder“), als Totschläger oder aus einem Zornaffekt gehandelt hat. Bei Unklarheiten sollte das zuständige Gericht den Vorgang an Rechtsfakultäten abgeben, um Meinungen von Rechtsgelehrten einzuholen. Damit sollten Fehlurteile von unwissenden Richtern und Schöffen minimiert werden.
Die Carolina war nicht, wie oft behauptet, ein blutiges Handbuch für Richter und Folterknechte oder ähnlich Absurdes, sie war ein ernstzunehmendes Rechtswerk. Den Richtern werden oft mit mahnenden Worten seine Pflichten zu gewissenhafter Erforschung des Sachverhalts, zur genauen Unterscheidung der verschiedenen Fallgestaltungen des Lebens und zur kühlen, distanzierten Behandlung jeder Rechtssache eingeschärft. Die Carolina hat, wie es einmal formuliert wurde, dem Juristen bis auf den heutigen Tag das Gesetz gewiesen, nach dem er angetreten ist. Dennoch erschrecken uns die Rechtsfälle, die die Wickiana für uns bereithält – sowohl bei der Darstellung der Taten als auch deren Ahndung.

ein grausamlich mord – Verlag Kirchschlager 2015