Eine der Gebirgshütten, in der der „wilde Mann“ mehrere Wochen lebte
Zu der Zeit, wo seine Neffen ermordet wurden, war John Tornow zweiunddreißig Jahre alt. Zwei ganze Jahre hatte er in den Wäldern zwischen dem Satsop und dem Wynoochee gehaust. Gelegentlich kreuzte ein Jäger, ein Fallensteller oder ein Holzhauer seinen Pfad. Mit allen stand er auf freundschaftlichem Fuß. In der letzte Zeit jedoch war er nicht mehr gesehen worden.
Und was noch seltsamer war: auch jetzt, wo die Wälder sozusagen von Menschen wimmelten, wo überall Aufgebote unterwegs waren, war John Tornow nirgends zu erblicken. Spurlos schien er vom Erdboden verschwunden. Und der Sheriff, dem es sowieso nicht an Arbeit fehlte, sah sich nun vor ein weiteres Problem gestellt: Hatten die Tornows und die Bauers einen Feind, der danach trachtete, sie aus dem Weg zu räumen?
Hier und da stieß man wohl auf eine andere Theorie. John Tornow war als exzentrisch bekannt. Der oder jener deutete deshalb an, es sei gar nicht ausgeschlossen, daß John und William Bauer von der Kugel ihres eigenen Onkels gefallen seien. Mit John Tornows Lebensgewohnheiten war die Familie durchaus nicht einverstanden gewesen. Vieles hatte man versucht, um ihm das regellose Herumstreifen draußen zu verleiden, ja man war sogar so weit gegangen, ihn in eine Nervenheilanstalt zu stecken. Geisteskrank konnte man ihn nicht nennen.
Daß seine Wunderlichkeiten Mitmenschen gefährlich werden könnten, ließ sich nicht behaupten. Als er deshalb eines Tages der Anstalt kurzerhand den Rücken kehrte und wieder in der Heimat erschien, wurde kein Aufhebens davon gemacht. Im übrigen blieb er nicht sehr lange bei den Verwandten. Eines Tages verschwand er. Da er nicht zurückkehrte und man unruhig wurde, machten sich hilfsbereite Nachbarn und beauftragte des Sheriffs daran, ihn zu suchen.
Sie entdeckten ihn in einer einsamen Lichtung in den Wäldern, wo er sich häuslich niedergelassen hatte. Körperlich war er nicht ganz auf dem Posten, trotzdem war er im Genuß seiner Freiheit selig wie ein Kind. Alles, was er verlangte, war, in Ruhe gelassen zu werden. Die Art, wie er dieses Verlangen aussprach, war nicht gerade die eines bittenden. Man konnte eine versteckte Drohung heraushören. Um so bereitwilliger entsprach man seinem Wunsch. Und so war er nun länger als achtzehn Monate nicht in den Bereich der Zivilisation zurückgekehrt.
Die Andeutung, daß John Tornow der Mörder seiner Neffen sein könnte, wurde vom größten Teil der Bevölkerung nicht freundlich aufgenommen. Den Betreffenden machte man kein Hehl daraus, daß sie völlig auf dem falschen Wege seien, erinnerte man sich doch in der ganzen Nachbarschaft, mit welch mehr als alltäglichen Zärtlichkeiten der Onkel an den beiden jungen Leuten hing. Abgesehen davon jedoch hatte er gewiß keinen Grund, auch nur ein Haar auf ihrem Haupt zu krümmen.
Gab es Beweismaterial gegen ihn? Ein reines Nichts: Die beiden jungen Leute waren mit einem gezogenen Militärgewehr getötet worden, das die Typenbezeichnung U. S. 30 trug. Ein solches Gewehr besaß auch John Tornow. Aber das bewies nichts. Innerhalb des Kreises allein befanden sich Dutzende solcher Waffen in den Händen der Bevölkerung.
Kurz nach der schon erwähnten Rückkehr aus der Anstalt in Oregon hatte John Tornow eines Tages Munition gekauft, einen alten Schuhkarton bis zum Rand damit gefüllt und einem Nachbar anvertraut, er werde jetzt in den Wald hinausziehen, um sich dort für immer häuslich einzurichten.
„Ich möcht`s keinem raten, mich wieder aus meinem Wald fortschleppen zu wollen!“ äußerte er zum Abschluß des Gesprächs.
Zweifellos lag darin eine Art Drohung. Doch diese Drohung war gefallen noch vor der Zeit, wo man nach ihm gesucht und ihn wohlgemut, wenn auch leicht erkrankt angetroffen hatte. Damals hatte er jedenfalls keinem von denen, die ihn aufstöberten, irgend etwas zu Leide getan.
Langsam liefen die Wochen dahin. Aus dem Herbst wurde allmählich Winter. Nich immer machten die Untergebenen des Sheriffs Jagd auf den Mörder, noch immer war nicht die geringste Spur entdeckt.
Eines Tages lief eine Meldung ein, die ein neues Aufgebot von Freiwilligen hoch hinauf in die starren Felswände der Olympic Mountains führte, achttausend Fuß über dem Meer, auf Wegen, die über abschüssige Eisfelder und gähnende Gletscherspalten führten. Ein Mann, auf den die Beschreibung Tornows paßte, sollte dort oben sein Winterquartier aufgeschlagen haben.
Man bekam niemanden zu Gesicht. Der Winter setzte mit voller Kraft ein. Er war schlimmer als je. Regenfälle, die alles wegschwemmten, wechselten mit schweren Schneestürmen.
Sheriff Kenzie, derselbe, der die Leichen entdeckt hatte, war ein ernst veranlagter Mensch. Er hielt es für seine heilige Pflicht, den Mörder herbeizuschaffen, koste es was es wolle. Darauf, nur darauf konzentrierte er sich zu guter Letzt ausschließlich. Al Elmer wiederum, der Wildheger des Bezirks, gehörte zu einem anderen Menschenschlag. Die Aufgabe, den Mörder zu stellen, war für ihn nichts, das ihn persönlich anging. Auf der anderen Seite nahm er sich nicht auf die leichte Schulter. Er rechnete sie mit zu seinen Amtsobliegenheiten, denen pünktlich nachzukommen er gewohnt war. Deshalb war er auch ohne weiteres bereit, sich Kenzie anzuschließen, als eine neue Fahrt in die Wildnis notwendig wurde. Zwei Fallensteller meldeten nämlich, daß sie die Überreste eines von menschlicher Hand zerlegten Elchs am Oxbow in der Gegend des Wynoochee Rivers gefunden hätten.
Am 8. März 1912 brachen die beiden Beamten nach dem Oxbow auf. Sie stießen auf das Lager der beiden Fallensteller Blair und Lathrop, von denen die Meldung herrührte, und ließen sich von ihnen den Kadaver des Elchs zeigen. Das Geweih war nicht ausgebrochen. Von den Zähnen, die eine beliebte Jagdtrophäe sind, fehlte nicht einer. Dem Mann, der den Elch auf die Decke gelegt hatte, war es nicht um Weidmannsfreuden zu tun gewesen. Er hatte Fleisch gebraucht. Blair und Lathrop wußten übrigens noch von anderen Zeichen zu berichten. Eineinhalb Meilen etwa von der Fundstelle des Elchs entfernt hatten sie Rauch von einem Lagerfeuer durch die Wipfel aufsteigen gesehen. Daß kein anderer Fallensteller sich in der Nähe aufhielt, glaubten sie genau zu wissen.
Kenzie machte sich zunächst auf den Weg hinunter nach Monte Sano. Er brauchte Ratschläge und Hilfskräfte. Am 9. kehrte er bereits wieder zurück und zwar ohne die Begleiter, die er hatte mitbringen wollen. Aus welchen Gründen er allein kam, ist nicht ganz geklärt. Elmer war bei den Fallenstellern geblieben. Man beschloß zuerst einmal die Gegend abzusuchen, in der das Lagerfeuer beobachtet worden war. Der Aufbruch erfolgte spät am Nachmittag. Vorräte wurden fast keine mitgenommen. Im wesentlichen bestanden sie nur aus einem kleinen Sack Rosinen.
„Zum Abendessen sind wir wieder zurück!“ rief Elmer fröhlich, sich noch einmal nach den beiden Fallenstellern umwendend, die den Zug nicht mitmachten. Aber zum Abendessen ließen sich Elmer und Kenzie nicht blicken. Auch nicht zum Frühstück und nicht zum Mittagessen des folgenden Tages. Lathrop und Blair sahen die beiden nicht wieder.
Sie suchten ohne Erfolg. Kollegen schlossen sich ihnen an. Am 14. März erschien der Fallensteller Frank Getty bei Sheriff Payette und erstattete Meldung. Die beiden Beamten waren und blieben trotz allen Suchens spurlos verschwunden.
Am 16. März gab Sheriff Payette seinen Befürchtungen öffentlich Ausdruck:
„Ich glaube, daß Elmer und Kenzie tot sind“, erklärte er. „Wir müssen uns bemühen festzustellen, was aus ihnen geworden ist.“
Am 20. März brach eine neue Suchexpedition auf. Sie wurde geführt von dem Hilfssheriff Fitzgerald. Die schon erwähnten Trapper Lathrop, Blair und Getty, sowie ein weiterer Namens Stormes, hatten sich ihr angeschlossen. Der Trupp bewegte sich auf einer Linie, die von dem Elchkadaver in der Richtung des vor einigen Tagen beobachteten Feuers verlief. Zwei Meilen weit ging es auf alten Elchwechseln durch Dickicht und unterholz. Dann stieß man auf eine neue Fährte im feuchten Grund. Menschenspuren! Sie waren noch frisch – nicht mehr als zwanzig Minuten oder eine halbe Stunde alt.
Blair, der Fallensteller, betrachtete sie nachdenklich. Als Sheriff Kenzie zu ihm ins Lager gekommen war, waren Blair seine Stiefel aufgefallen: schwere ganz neue Flößerstiefel mit scharfem Beschlag. Blair erinnerte sich genau an die Art, in der die Nägel des Beschlags gruppiert waren, und er hätte jeden Eid darauf geleistet, daß die Spuren, die er vor sich sah, von Kenzies neuen Stiefeln herrührten.
Dafür gab es nur eine Deutung: Die Stiefel des Sheriffs befanden sich jetzt an den Füßen eines anderen!
Die Fährte führte bis zum Rande einer tief eingerissenen Schlucht. Mit äußerster Vorsicht kletterten die Männer einer nach dem anderen hinab, die Waffe in der Hand, fast bei jedem Schritt anhaltend, um auf den Boden der Schlucht hinabzuspähen. Die Sicht war schlecht. Unten war Jungholz von Esche und Ahorn üppig aufgeschossen. Es war kaum möglich zu sehen, was sich unter dem dichten Blätterdach verbarg.
Endlich war der Boden der Schlucht erreicht. An ihrem äußersten Ende befand sich ein Windbruch. Mitten zwischen den gefallenen Stämmen war eine primitive menschliche Behausung errichtet. So geschickt war sie der Umgebung angepaßt, daß die Männer sie erst bemerkten, als sie unmittelbar davor standen. Die Annäherung war nur von einer Stelle aus möglich, wo sich zwischen dem Wurzelwerk von zwei kreuzweise übereinandergestürzten Waldriesen eine Art Durchgang öffnete, den man nur gebückt passieren konnte. Wer sich der Behausung mit feindseligen Absichten näherte, mußte in dem Engpaß ohne weiteres der Kugel seines in der Hütte verborgen liegenden Gegners zum Opfer fallen. Es zeigte sich jedoch, daß das Lager verlassen war. Die Männer hielten Umschau und entdeckten hinter der Hütte einen untrügbaren Beweis dafür, daß sie bis vor kurzem noch bewohnt gewesen sein mußte.
An einem Ast baumelte, sorgfältig zugerichtet und durch Räuchern haltbar gemacht, das Viertel eines Elchs. Spähend ging George Stormes an den umgestürzten Bäumen entlang, deren Stämme eine Art dreieckigen Hofraum bildeten. Hier und da stocherte er in der festgetretenen Erde. Auch hier waren wieder Spuren genagelter Schuhe sichtbar, dieselben Spuren, denen die Männer bis zur Hütte gefolgt waren. Blair schwor steif und fest, daß es nur Kenzies Schuhe sein könnten. Er erkenne die Benagelung mit Sicherheit wieder. Stormes wunderte sich über die Vielzahl der Nagelspuren, bis es ihm einfiel, daß sie vielleicht nicht zufällig entstanden seien. Vielleicht hatte der Besitzer sich bemüht, den gelben Lehmboden aus irgendwelchen Gründen festzustampfen.
Aufs Geradewohl wühlte er den festgetretenen Boden auf und schaufelte, so gut es ging, mit dem Büchsenkolben die lockere Erde beiseite. Nach kurzer Zeit hatte er ein paar menschliche Füße freigelegt. Seine Kameraden eilten herbei und halfen ihm bei der Arbeit. Bald beugten sich die Männer über ein menschliches, vom Todeskampf verzerrtes Antlitz, das ihnen aus der Erde entgegenstarrte. Es war das Gesicht des auf der Suche in den Wäldern verschollenen Elmer. Und zu Elmers Füßen fanden sie Kenzie.
Beiden Toten hatte der Mörder die Stiefel abgezogen. Das Wichtigste und Furchtbarste aber war eine weitere Entdeckung: Mit voller Absicht hatte der Mörder seine Opfer so verscharrt, daß ihre Leichen den lateinischen Buchstaben T darstellten.
„Tornow!“ rief Fitzgerald verblüfft. „T ist der Anfangsbuchstabe seines Namens. Jetzt wissen wir, wen wir zu suchen haben. Und John Tornow ist der beste Schütze im ganzen Land!“
Nach allen Anzeichen war Elmer als erster gefallen. Er war auf der Stelle getötet worden. Die Kugel seines Gegners hatte das Herz durchbohrt. An Kenzies Leichnam waren zwei Wunden festzustellen. Keine von ihnen hätte unbedingt den Tod herbeiführen müssen.
Ohne Mühe vermochten die erfahrenen Waldläufer sich ein Bild der blutigen Tragödie zu machen, die sich hier abgespielt hatte. Weder Elmer noch Kenzie hatten wohl eine Ahnung, daß sie unversehens dem Tod in den Rachen liefen. Die Hütte zwischen den Stämmen hatten sie nicht bemerkt, genau so wie die Männer, die sich jetzt über ihr Grab beugten, erst im letzten Augenblick der seltsamen Behausung gewahr geworden waren. Im Dunkel seines Schlupfwinkels lauernd, hatte der Mörder in aller Ruhe gewartet, bis seine Opfer sich anschickten, durch den Engpaß zwischen dem aufgetürmten Wurzelwerk zu kriechen. Dann fiel der erste Schuß.
Weder Elmer noch Kenzie hatten eine Möglichkeit, das Feuer zu erwidern. Wehrlos wurden sie niedergeknallt. Elmer war sofort tot. Daß Kenzie noch Zeit fand, seinen Mörder zu sehen und zu erkennen, verriet nicht nur die Miene des Abscheus und des Entsetzens, die das Gesicht in der Totenstarre noch bewahrt hatte, sondern auch das nachfolgende Ergebnis der Obduktion. In Ochsenhäute eingenäht, wurden die Leichen aus der Wildnis am Oxbow nach Monte Sano hinuntergebracht. Die Ärzte stellten fest, daß Kenzie nicht nur von einem Schuß aus einer U. S. 30-Büchse niedergestreckt worden war – aus derselben Waffe, mit der John und William Bauer getötet worden waren – sondern man entdeckte auch zwei Revolverkugeln aus Kenzies eigenem Revolver. Das war nicht schwer zu deuten. Der Mörder hatte sich über sein noch atmendes Opfer gebeugt, hatt eihm die Pistole aus dem Gürtel gerissen und ihm aus nächster Nähe zwei Schüsse in den Leib gejagt.
Kenzie hatte also das unheimliche Waldgespenst Auge in Auge gesehen. Eine Minute später aber hatte der Tod ihm die Lippen auf ewig versiegelt. Das Rätsel war noch immer nicht gelöst. Man fand in der Waldhütte am Oxbow die Scharte, hinter der der unbekannte Schütze gelauert hatte. Man fand hinter dem Lager eine Fährte, die in die Wildnis hineinführte. Sie war noch frisch. Erst unmittelbar vor dem Eintreffen des Aufgebots hatte das Waldgespenst den Schauplatz seiner letzten Bluttat verlassen.
Sieben Monate waren seit dem gewaltsamen Tod von John und William Bauer ins Land gegangen und noch hatte kein Lebender den Mörder zu Gesicht bekommen. Seit dieser Zeit aber war und blieb auch John Tornow verschwunden. Sheriff Payette lebte in der felsenfesten Überzeugung, daß der Täter in der Person John Tornows zu suchen sei. Aber er stand damit im Widerspruch zu der Auffassung der meisten Ansiedler am Wynoochee und Satsop. Keiner von ihnen hielt John Tornow einer solchen Tat für fähig.
„Großer Gott!“ rief der Sheriff, sich ereifernd, wenn auf die Angelegenheit die Rede kam, „wer soll`s denn sonst gewesen sein? Wie sollte man sich das sonst erklären? Kein anderer wäre imstande, zwei Jahre lang seine Existenz nur von dem zu bestreiten, was ihm der Wald an Nahrungsmitteln bietet. John Tornow ist der Mörder! Dafür lege ich meine Hand ins Feuer!“
Die Bezirksbehörden erhöhten die ausgesetzte Belohnung von 300 auf 400 Dollar. Der Staat gab seinerseits 1000 Dollar dazu, und auf Drängen Payettes wurde n den amtlichen Bekanntmachungen jetzt ebenfalls John Tornow als derjenige bezeichnet, den es zu greifen galt.
Der Herbst des Jahres 1912 neigte sich dem Ende zu, ohne daß irgendeine neue Wendung eintrat. Höchstens liefen hie rund da einmal allerlei dunkle Gerüchte ehrum. Gelegentlich verschwand auch einmal ein Tourist, der sich in dei wilde Gegend am Oxbow getraut hatte. Von da an vermieden es Jäger und Fischer, sich allzuweit am Oberlauf des Satsop undd es Wynoochee hinaufzuwagen.
Die Zeit war gekommen, wo der Bezirk sich einen neuen Sheriff zu wählen hatte. In der Wahlpropaganda spielte die vierfache Bluttat eine beträchtliche Rolle. Auch ich kandidierte. Ohne den Mund übermäßig vollzunehmen, wie es in der Hitze der Agitation bisweilen geschieht, versprach ich meinen Wählern doch, die Aufklärung der dunklen Angelegenheit zu meiner wichtigsten Aufgabe zu machen. – Ich wurde gewählt und übernahm am 13. Januar meine Amtsobliegenheiten. Kurz darauf traf ich auf der Straße den alten Georg Spaulding, einen Deutschen, der sich am Satsop River angesiedelt hatte.
„Na, Schelle“, begrüßte er mich, „du willst Jonny Tornow beim Kragen nehmen? Wenn`s nur nicht umgekehrt kommt! Wenn er nur nicht dich beim Kragen nimmt! John ist in den Wäldern wie zu Hause. Er wird dir einen Streich spielen!“
Solche und ähnliche Äußerungen konnten mich nicht einschüchtern. Am 13. hatte ich mein Amt angetreten, am 14. um 5 Uhr früh hatte ich bereits ein neues Aufgebot zusammengetrommelt und war zum Aufbruch bereit. Es war uns zu Ohren gekommen, daß jemand monatelang in einem hohlen Baum am westlichen Quellarm des Satsop Rivers gehaust hatte.
Wir fanden auch den riesigen Baum, dessen hohler Stamm recht gut einem Menschen zur Wohnung dienen konnte, aber weit und breit war keine Seele zu erblicken. Daß jedoch die Höhle als Behausung gedient hatte, stand einwandfrei fest. – Von seinen Gängen in die Wildnis zurückkehrend, hatte der Bewohner an seinem Schuhwerk Lehm und Erde mitgebracht und, ohne es zu wollen, in die Höhle verschleppt. Allmählich hatte sich so eine dicke Schicht gebildet, die sich deutlich von dem Boden in der Umgebung abhob, und deren Höhe für jeden erfahrenen Waldläufer den Schluß zuließ, daß der Baum mehrere Monate hintereinander bewohnt gewesen war.
Die sechs Leute, die mich auf meinem Streifzug begleiteten, waren allesamt erfahrene Waldläufer und ausgezeichnete Schützen. Wir richteten uns am östlichen Quellarm des Satsop – am Tornowarm, wie wir ihn tauften – ein Lager ein und patrouillierten, trotz des fußhohen Schnees, der das Weiterkommen erschwerte, die ganze Gegend zwischen den beiden Quellarmen systematisch ab. Keine Stelle, die eventuell einem Menschen als Unterschlupf in der Waldwüste dienen konnte, entging unserer Aufmerksamkeit.
Mehr als einmal stießen wir auf alte, halbzerfallene Blockhäuser, die vor langer Zeit errichtet und von ihren Bewohnern längst wieder aufgegeben worden waren. Überall fanden sich Anzeichen dafür, daß in diesen Ruinen das Waldgespenst eine Zeitlang gehaust hatte. Bald verriet es von den Schuhen abgefallener getrockneter Lehm auf den vermorschten Böden, bald ein Haufen Lumpen, der als zu verbraucht zurückgeblieben war, bald die noch unverwehte Asche eines erloschenen Feuers.
Sämtliche derartige Wohnstätten, die wir entdeckten, gingen in Flammen auf. Wir wollten unserem Gegner das Dasein soviel wie möglich erschweren.
Eines Tages erfuhren wir, daß der Waldmensch eine verlassene Hütte am Tornowarm als Quartier erwählt habe. Die Mitteilung stammte von einem Ansiedler, dessen Hof in der Nähe der Hütte lag. Schleunigst brachen wir auf. Aber wir erlebten eine Enttäuschung. Ein Blick in das Innere der Hütte überzeugte uns sofort, daß sie seit Jahren von niemandem betreten sein konnte. Anscheinend litt der Framer an Halluzinationen. Auch jetzt noch war er sehr aufgeregt und ebstand darauf, daß er das Waldgespenst noch ind er vergangenen Nacht in der Nähe der Hütte habe herumschleichen sehen.
Einer meiner Leute besah sich die Hütte von außen. Ganz unten an der Rückwand entdeckte er ein gelockertes Brett. Er beseitigte es und spähte in den dunklen Hohlraum unter dem Hüttenboden hinein. Und jetzt zeigte es sich, daß diese Höhle tatsächlich geraume Zeit bewohnt worden sein mußte. Das Waldgespenst hatte sein Quartier unter, nicht in der Hütte aufgeschlagen! Irgendein urzeitlicher Instinkt schien in dem Wesen wieder aufgewacht, der es zwang, so dicht an der Erde zu schlafen, wie es nur immer möglich war. Wir hatten es mit einem Halbtier zu tun, daß sich in Höhlen und Löchern verkroch, einem verschlagenen, hinterhältigen Geschöpf, das uns womöglich aus einem Versteck heraus beobachtete, wenn wir unterwegs waren; genau so, wie es wohl die Männer belauert hatte, die Elmers und Kenzies arme Überreste aus ihrem flüchtig zusammengescharrten Grabe bargen.
Immer schien es irgendwo um uns herum gegenwärtig zu sein, und dieses unheimliche Gefühl begann uns auf die Nerven zu gehen. Im Walde bewegten wir uns mit äußerster Vorsicht, hielten die Augen offen und trugen Sorge, immer möglichst nahe beieinander zu bleiben.
Einer befand sich in unserem Aufgebot, dessen Persönlichkeit ich nicht so leicht vergessen werde. Das war George Stormes, ein wahrer Riese von einem Mann. Noch heute sehe ich ihn vor mir. Wenn wir einmal einen Halt einlegten, um auszuruhen, war er der einzige, der aufrecht stehen blieb, den Kopf auf die Seite geneigt, angestrengt horchend, das Gewehr schußbereit im Arm. Ein wortkarger Mann, stets kaltblütig und auf alles gefaßt. Ich wußte, daß ich mich im Notfall stets auf ihn verlassen konnte.
Sechs Wochen hatten wir unser Standquartier am Tornowarm. Dann siedelten wir nach dem Westarm hinüber, wo wir bei Mike Gleason unterkamen. Von hier aus durchstreiften wir das gesamte Gebiet zwischen dem Westarm und dem Wynoochee River.
Oft genug fanden wir Beweise dafür, daß sich der Flüchtling an dieser oder jener Stelle längere Zeit aufgehalten hatte. Ihn selbst bekamen wir niemals zu Gesicht. Allmählich waren drei Monate vergangen, seit ich das Amt des Sheriffs übernommen hatte, ohne daß ich einen Erfolg heimbringen konnte. In der Bevölkerung begann man zu murren. Die Kreisverwaltung war empört darüber, daß ich so viel Geld umsonst verbrauchte. Sie drohten mir die Mittel zu entziehen, aus denen ich die Mitglieder des Aufgebots bezahlte.
„Meinetwegen“, lautete meine Erwiderung. „Wenn sie mir das Geld nicht bewilligen, werde ich ganz einfach die Bürobeamten mit hinaus in den Wald nehmen. Auf alle Fälle werde ich nicht ruhen, noch rasten, bis ich den Mörder zur Strecke gebracht habe. Darin sehe ich meine wichtigste Aufgabe.“
Zu Anfang April 1913 wurde ich in die Stadt gerufen. Es handelte sich um gewisse Angelegenheiten, die beim Bundesgericht zu ordnen waren, eine Sache, die ich leider nicht abwälzen konnte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich dauernd in den Wäldern gesteckt.
Auf dem Weg nach Tacoma, wo der Gerichtshof seinen Sitz hat, erhielt ich einen jener Winke, die auch der tüchtigste und erfahrenste Kriminalist braucht, wenn er ein Unternehmen erfolgreich durchführen will.
Im Zug traf ich nämlich mit einem gewissen J. B. Lucas aus Hoquiam zusammen, der nach Oregon fuhr. Lucas war Terrainspekulant. Im Sommer 1912 war ein Teil der Gegend am Oxbow vermessen worden, da dort eine Holzgesellschaft zum Abtransport von Rundhölzern eine Kleinbahnlinie bauen wollte. Lucas hatte sich den Geometern angeschlossen.
Als er sich neben mir auf der Bank niedergelassen hatte, war sein erstes Wort: „Schelle, ich weiß wo John Tornow steckt, zumindest, wo er sich im vergangenen Sommer aufgehalten hat, aber ich würde jede Wette eingehen, daß er auch jetzt noch da zu finden ist.“
„Woher wissen Sie, daß es Tornow ist?“ erkundigte ich mich.
„Dafür kann ich allerdings nicht unbedingt einstehen. Jedenfalls aber weiß ich, wo sich das Waldgespenst verkrochen hat, solange ihr nach ihm gesucht habt.“
„Heraus mit der Sprache!“ rief ich. „Menschenskind, wenn Sie das wirklich wissen, warum sind Sie nicht längst damit gekommen?“
Lucas zog ein Notizbuch aus der Tasche und entwarf eine rohe Situationsskizze.
„Kennen Sie die Pillowshack-Hütte am Westarm des Satsop?“ fragte er.
Ich bejahte. Der Pillowshack war eine der vielen Hofstätten, die von irgendeinem Siedler gegründet und wieder aufgegeben worden waren. Das Blockhaus war jetzt unbewohnt und begann langsam zu zerfallen.
„Vom Pillowshack geht ein Pfad nach dem Wynoochee River hinüber“, fuhr Lucas fort. „Es mögen vier bis fünf Meilen zu laufen sein. Auf halbem Weg kreuzt man einen schmalen gerodeten Streifen im Wald. Das ist die Trasse für die neue Kleinbahn, die im Sommer von den Ingenieuren der Holzgesellschaft abgesteckt worden ist. Wenn man der Trasse eineinhalb Meilen weit nach Süden folgt, und an der Stelle, wo sie umbiegt, noch eine halbe Meile weiter gegen Westen wandert, kommt man an das Ufer eines kleinen Sees. Die Hütte, die ich meine, befindet sich auf einer Insel im See. Vom Ufer aus führt ein Baumstamm als Brücke hinüber. Am besten hält man sich dann zur Rechten. Da ist ein kleiner Pfad, auf dem man von hinten an die Hütte heran kann. Vom Pillowshack bis dahin sind es etwa vier Meilen. Glauben Sie, daß Sie hinfinden werden?“
Ob ich hinfinden konnte? Ich wußte genau wo es war!
„Der wilde Mann, nach dem Sie suchen, hat den ganzen vergangenen Sommer in diesem Schlupfwinkel verbracht“, fuhr Lucas fort. „Es ist ein reiner Zufall, daß ich die Sache entdeckte. Ich bin sozusagen darüber gestolpert, als ich eines Tages durch den Wald streifte. Es war jedoch niemand zu Hause. Zu meinem Glück, wie ich vermute.“
Lucas beschrieb mir noch im einzelnen, wie es in der Waldhütte ausgesehen hatte. Im wesentlichen stimmte seine Schilderung mit dem überein, was wir anderswo gefunden hatten, wo der geheimnisvolle Waldmensch längere Zeit Station gemacht hatte.
Auf Grund all dieser Informationen reorganisierte ich mein Aufgebot. Ich warb Lathrop, Blair, Quimby, Stormes und Elliot an. Die Hütte im See sollte eingekreist und dem Besitzer jeder Fluchtweg abgeschnitten werden.
Am 10. April 1913 erhielten Quimby, Lathrop und Blair von mir nähere Verhaltensmaßregeln für die bevorstehende Expedition. Wir hatten soviel Zufluchtsstätten des Flüchtlings niedergebrannt, daß kaum noch ein geeignetes Versteck für ihn übrig blieb. Um so eher durfte ich damit rechnen, daß er noch immer auf der Insel hauste. Die Hütte am Pillowshack sollte uns als Standquartier dienen. Aufgabe der drei Genannten war es, zunächst die nötigen Vorräte nach dem Pillowshack zu schaffen, was einige Zeit in Anspruch nahm. Wenn das geschehen war, sollten sie auf meine Rückkehr aus der Stadt warten, wo ich am Bundesgericht zu tun hatte. Unter allen Umständen war es ihnen verboten, sich dem Ufer des Sees zu nähern. Bei aller Achtung für Kenzie und Elmer konnte ich mich nämlich nicht des Gedankens erwehren, daß sie ihren Tod zum Teil selbst mitverschuldet hatten. Das Unglück hätte sich vielleicht vermeiden lassen, wenn sie ihren Streifzug nicht allein unternommen und sich im Walde größerer Vorsicht und Behutsamkeit befleißigt hätten. Ich für meinen Teil wollte jedenfalls alles tun, um eine ähnliche Tragödie zu vermeiden.
Der Transport der Vorräte nach dem Pillowshack war am 13. April beendet. Alles mußte von Monte Sano aus ins Gebirge geschafft werden. Für die ersten zwanzig Meilen konnte ein Auto benutzt werden. Der Weitertransport bis zum Holzfällerlager Nummer fünf der Simpson-Holzgesellschaft erfolgte auf der von der Gesellschaft hergestellten Schmalspurbahn. Vom Lager aus mußte dann alles auf dem Rücken zum Pillowshack gebracht werden. Damit war die Aufgabe meiner Leute erfüllt. Im übrigen hatten sie abzuwarten, bis ich mit Stormes und Elliot zu ihnen stieß. Am 16. nachmittags traf ich wieder in Monte Sano ein und wollte am anderen Morgen zum Pillowshack aufbrechen.
Um zehn Uhr abends rasselte plötzlich bei mir das Telephon. Am Apparat war mein Schwager Quimby, der in meiner Abwesenheit am Pillowshack das Kommando führen sollte. Er war Veteran des spanisch-amerikanischen Krieges und hauptsächlich deshalb hatte ich ihn mit meiner Stellvertretung beauftragt. Sein Naruf erfolgte aus dem Lager 5 der Simpson-Holzgesellschaft.
„Schell!“ rief er mit bebender Stimme in den Hörer. „Wir haben den Kerl gestellt, aber Lathrop und Blair sind tot.“
Vollkommen fassungslos stürzte ich davon, trommelte alle Leute zusammen, deren ich habhaft werden konnte, und brach sofort zum Pillowshack auf. Sicher hatte man meine strengen Weisungen mißachtet.
Am nächsten Morgen, als wir uns vor dem Frühstück wuschen, fragte ich meinen Schwager:
„Hat der Kerl in der Hütte auf der Insel gesteckt?“
„Ja“, lautete die Antwort. „Spar dir die Vorwürfe, Schell, ich weiß genau, was du sagen willst. Aber die Leute waren einfach nicht mehr zu halten.“
„Hat`s ihn erwischt?“
„Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich habe ihn getroffen. Im ganzen habe ich sieben Schüsse auf ihn abgegeben. Den letzten im knien. Er hatte hinter einem Buchenstamm Deckung genommen und feuerte auf die anderen. Ich habe nach seinem Kopf gezielt.“
„War es Tornow?“
„Das weiß ich nicht“, antwortete mein Schwager. „Auf alle Fälle war er so verwildert, daß er mehr einem Tier als einem Menschen glich.“
Bei Tagesanbruch verließen wir die Hütte am Pillowshack. Ich hatte zweiundzwanzig Mann mit. Aber als wir uns dem See näherten, zog ich das Aufgebot in einem weiten Halbkreis auseinander. Nur sechs von uns passierten die primitive Brücke, die zur Insel hinüberführte.
Vorsichtig arbeiteten wir uns an die Hütte heran. Zwei leblose Gestalten lagen im Gestrüpp und Unterholz. Lathrop und Blair. Über dem Körper ihrer toten Herren liegend, hielten die Hunde die letzte Wache. Ihre Haltung zeigte auf den ersten Blick, daß die Insel verlassen sein mußte. Entweder war der Waldmensch tot, oder er war uns wieder einmal durchs Netz geschlüpft.
Mein Schwager zeigte mir den Baumstamm, hinter dem der zottige Kopf des Waldgespenstes sichtbar gewesen war, als er auf ihn anlegte und abdrückte. Auch hier lagen vom Wind entwurzelte Bäume in Menge herum. Mich auf einen der riesigen Stämme schwingend, ging ich vorsichtig weiter.
Am Fußende des Stammes lag etwas. Ich glaube, es dauerte mehrere Minuten, bis mein Hirn erfaßt hatte, daß ich den Leichnam des Mannes vor Augen hatte, den wir schon so lange suchten. Ich erkannte ihn. Es war John Tornow.‘
Mich umwendend, rief ich meinen Begleitern zu: „Immer heran! Hier liegt der alte John und rührt sich nicht mehr!“